The Man in Black Comes Around – über Johnny Cash

tl;dr: Wie ich in den achtziger Jahren aufwuchs und dabei Johnny Cash schätzen lernte

JohnnyCashHouse1969Einer der Gründe, weshalb ich die achtziger Jahre in so unguter Erinnerung habe, ist sicherlich, dass meine Pubertät nun gerade in diese Dekade fiel, wofür sie (die Dekade) selbst ja nichts kann, das muss zu ihrer Verteidigung gesagt werden. An seine Pubertätszeit denkt vermutlich niemand besonders gerne zurück. Eher selten höre ich Leute sagen: „Ach, was war das doch schön damals, als ich mir meinen ersten Sport-BH kaufen musste, weil sonst alles wackelte, und mit unwirksamen Mitteln einen aussichtslosen Kampf gegen Pickel führte.“ Apropos Pickel: Vielleicht ist es ja nur die Altersmilde, aber mir kommt die heutige Jugend deutlich weniger verpickelt vor, als wir es damals waren. Gibt es demnach vielleicht mittlerweile doch ein wirksames Mittel? Aber lassen wir das.

Der zweite Grund für meine tiefsitzende Antipathie gegen die achtziger Jahre ist das Fernsehprogramm jener finsteren, zum Glück schon lange vorbeien Ära mit 16 kB Arbeitsspeicher und mit Kaltem Krieg, aber ohne Internet. Es war nahezu unmöglich, David Hasselhoff zu entgehen, wenn man im Fernsehen Unterhaltung suchte. Ernsthaft, David Hasselhoff! Den gab gibt es wirklich. Wahrscheinlich war dieser Mann einer der Hauptgründe, warum später in den Neunzigern so viele junge Leute in die Medienbranche strömten: Intuitiv ahnten sie, dass es dort viel zu tun gab. Man suchte Zerstreuung und bekam Baywatch, Dallas und die Schwarzwaldklinik, eine kuriose Mischung aus Arztserie und Heimatkitsch.

Irgendwann in der ersten Hälfte der achtziger Jahre, mit etwa zehn Jahren, entdeckte ich nun Johnny Cash für mich, und zwar dank Freddy Quinn und seiner Fernsehsendung Country Time. Freddy Quinns Karriere hatte ihn vom Seemannskitsch der fünfziger Jahre (Junge, komm bald wieder) zum Trucker- und Cowboy-Kitsch der Achtziger geführt. Seine Show war aber, gemessen am seinerzeitigen Durchschnittsniveau, gar nicht mal so furchtbar schlecht. Wir hatten doch nichts anderes, mein Gott! An so etwas wie Breaking Bad im Fernsehen war nicht zu denken. Ein auf Englisch radebrechender Wim Thoelke war jedenfalls kein Stück besser, außer wenn der blaue Klaus mit seinem UFO (eine der unvergesslichen Schöpfungen Loriots) zu Besuch kam.

Cashs Auftritt war ein echtes Highlight in der Sendung, denn die übrigen Darbietungen kamen zu einem beträchtlichen Teil von deutschsprachigen Country-Epigonen wie Truck Stop, und wie ich kürzlich bewiesen habe, ist deutsch(sprachig)e Countrymusik nichts anderes als eine unbewusste späte Rache für die Rückführung der Beutekunst aus dem Zweiten Weltkrieg: Kulturpiraterie oder populärkünstlerische Industriespionage, gegen die sich der Amerikaner heute ganz und gar legitim mit Hilfe der NSA und seiner gefürchteten Schattenarmee aus Chlorhühnchen verteidigt.

The Man in Black: Johnny Cash, der Unbequeme

Positiv fiel an Cash unter anderem seine vergleichsweise dezente, ganz genreuntypische Kleidung auf. Während Gastgeber Freddy Quinn im albernen Fransenhemd Wildwestromantik auszustrahlen versuchte (was mir als Kind freilich durchaus zusagte), betrat der „Man in Black“ im (natürlich) schwarzen Anzug mit Fliege die Bühne. Die übliche, meist eher kitschig bunte Ornamentik der Country-Szene mit Bolo-Tie und breitkrempigem Stetson war nie seine Sache.

Seit Anfang der siebziger Jahre war die schwarze Kleidung eines von Cashs Erkennungszeichen, ebenso wie die (schon ältere) Gewohnheit, praktisch jeden Auftritt mit den Worten „Hello, I’m Johnny Cash“ einzuleiten. In dem programmatischen Song Man in Black (1971) heißt es dazu:

Well, you wonder why I always dress in black,
Why you never see bright colors on my back,
And why does my appearance seem to have a somber tone?
Well, there’s a reason for the things that I have on:

I wear the black for the poor and the beaten down
Livin‘ in the hopeless, hungry side of town.
I wear it for the prisoner who has long paid for his crime
But is there because he’s a victim of the times.

I wear the black for those who’ve never read
Or listened to the words that Jesus said.
[…]

Well, we’re doin‘ mighty fine, I do suppose
In our streak of lightnin‘ cars and fancy clothes,
But just so we’re reminded of the ones who are held back
Up front there ought to be a man in black!

In diesen wenigen Zeilen des Liedes, das wie gesagt Züge einer Programmschrift trägt, sind vier Elemente benannt, die an Cash als Person und an seinem musikalischem Werk auffallen:

„a somber tone“ – Viele seiner Stücke, darunter die, die ich am liebsten mag, sind von einer recht düsteren Stimmung geprägt und handeln von den Schattenseiten des Lebens, von Schuld und Strafe, von Einsamkeit und Enttäuschung. Unter den frühen Stücken sind hier beispielhaft zu nennen: Born to Lose, Home of the Blue, Doggone Lonesome. „There was always a kind of dark energy around John and his music“, schreibt Kris Kristofferson in seiner Würdigung für den Rolling Stone. „My first hero, when I was a kid, was Hank Williams, and he had a similar energy.“

„the poor and the beaten down“/„the ones who are held back“ – Cash hat es immer verstanden, sich (durchaus glaubwürdig) als jemand zu inszenieren, der auf der Seite der Verlierer und der Ausgestoßenen steht. (Dass das Tragen schwarzer Kleidung die Lage der Armen und Niedergedrückten besonders nachhaltig verbessert, darf freilich bezweifelt werden.)
Unbedingt erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang das Album Bitter Tears: Ballads of the American Indian (1964), in dem Cash ganz unmissverständlich Partei für die indianische Urbevölkerung ergriff und die US-Regierung des Betrugs an den Indianern bezichtigte, was ihm einen Boykott mehrerer Radiosender einbrachte. Besonders bekannt ist das Lied The Ballad of Ira Hayes, geschrieben vom indianischen Folksänger Peter La Farge und von Cash zum Hit gemacht. Es erzählt die Geschichte des indianischstämmigen Cpl. Ira H. Hayes, der als Marineinfanterist 1945 an der Schlacht um die japanische Insel Iwojima (einem äußerst verlustreichen Gemetzel) teilnahm und dadurch bekannt wurde, dass er gemeinsam mit fünf anderen Soldaten auf einem der berühmtesten Fotos des Zweiten Weltkriegs, Raising the Flag on Iwo Jima von Joe Rosenthal, zu sehen ist. The Ballad of Ira Hayes berichtet wahrheitsgemäß, dass Hayes als verelendeter Alkoholiker im Indianerreservat starb.

„for the prisoner … a victim of the times“ – Das ist zum einen eine Fortsetzung des eben Gesagten, zum anderen hebt es hervor, dass zwei der erfolgreichsten Platten Johnny Cashs Livemitschnitte von Konzerten in Haftanstalten waren, nämlich in Folsom (1968) und San Quentin (1969). A Boy Named Sue von dem Album At San Quentin wurde als Single ein Nummer-1-Hit. (Von diesem Lied gibt es übrigens eine recht getreulich übersetzte deutsche Coverversion von Gunter Gabriel.) Filmaufnahmen von dem Konzert in San Quentin wurden wegen gesellschaftskritischer Äußerungen Cashs zunächst nicht im Fernsehen gezeigt.

„the words that Jesus said“ – Cash war gläubiger Christ, genauer Baptist. Hymns by Johnny Cash (1959), sein zweites für das Columbia-Label produziertes Album, besteht ausschließlich aus Gospels. Eines der letzten Lieder, die er schrieb, ist das aus biblischen Motiven zusammengesetzte When the Man Comes Around (2002), der Titelsong des Albums American IV. „Johnny Cash was a biblical character. He was like some old preacher, one of those dangerous old wild ones“, schreibt Kris Kristofferson.

Boom-chicka-boom: Johnny Cash, der innovative und vielseitige (jawohl!) Musiker

Musikalisch war Cash eher ein Freund des Schlichten. Das monoton hämmernde „boom-chicka-boom“, das er Mitte der fünfziger Jahre gemeinsam mit seiner Begleitband The Tennessee Two – Luther Perkins (Gitarre) und Marshall Grant (Bass) – erfand und zu seinem Markenzeichen machte, war und ist bestimmt kein Meilenstein musikalischen Raffinements, aber es hat einen hohen Wiedererkennungswert und hat so geholfen, die Marke Johnny Cash zu etablieren. Das Publikum, das er sich suchte – Strafgefangene und andere Underdogs –, war wohl auch nicht unbedingt auf erlesenen musikalischen Gaumenkitzel aus.

Zu Anfang dieser Aufnahme von I Walk the Line bei YouTube erklärt er, wie der charakteristische Cash-Sound, genauer: das schnarrende „chicka“ in „boom-chicka-boom“, ursprünglich zustande kam: „I liked the sound of the snare drums … I didn’t have a snare drum, so I put a paper in the strings and got my own.“ Ein einfaches, hinter die Gitarrensaiten geklemmtes Stück Papier schuf einen neuartigen Sound. „It [I Walk the Line] didn’t sound much like any of the country music that was popular at the time“, stellt Kris Kristofferson im Rolling Stone fest.

1960 holte Cash noch den Schlagzeuger W. S. Holland mit ins Boot, so dass aus den Tennessee Two die Tennessee Three wurden und die auf der Gitarre nachgeahmte Snaredrum eigentlich überflüssig wurde. Der Country-Insider weiß, dass dieser Schritt den Maestro als jungen Wilden kennzeichnet: In der ihrem Wesen nach konservativen, nicht unbedingt experimentierfreudigen Country-Szene waren Perkussionsinstrumente bis dato mehr oder weniger tabu, für den Rhythmus war allein der Bass zuständig, auf dem allenfalls zu besonderen Anlässen ein bisschen herumgetrommelt werden durfte.

Der eben erwähnte Song I Walk the Line (Because You’re Mine) war übrigens eine Art Treueversprechen seiner ersten Ehefrau Vivian Liberto gegenüber („Um deinetwillen bleibe ich auf dem rechten Weg“ oder so ähnlich). Er hat es nicht eingehalten: 1968 heiratete er June Carter (die June Carter!), mit der er auch einige absolut grauenhafte Duette wie If I Were a Carpenter aufnahm. Er: „Wenn ich ein Zimmermann wäre und du eine Lady, würdest du mich trotzdem heiraten, würdest du mein Kind bekommen?“ Sie: „Wenn du ein Zimmermann wärest und ich eine Lady, ich würde dich trotzdem heiraten, ich würde dein Kind bekommen.“ Alles klar! Mitten aus dem Leben gegriffen. In meinen Augen erfüllt dieses Lied den Tatbestand der gemeingefährlichen Volksverkitschung; aber nun gut, niemand ist perfekt.

Auch das bereits erwähnte Bitter-Tears-Album zeichnet sich durch Experimentierfreude und das Überschreiten von Genregrenzen aus: Cash baute Versatzstücke aus der indianischen Musik ein; die erwähnte Ballad of Ira Hayes enthält an zentralen Stellen (besonders deutlich am Anfang und am Ende) Zitate aus der Militärmusik (Signalhorn (?), Trommel), die dem Lied als Erzählung zusätzlich Lebendigkeit verleihen.

Der Welthit Ring of Fire wird klanglich von Mariachi-Trompeten dominiert. Er wurde 1963 von Cashs späterer Ehefrau June Carter geschrieben und von Merle Kilgore vertont. Die Zeilen „Bound by wild desire / I fell into a ring of fire“ lassen erahnen, dass hier einerseits von einer problematischen Liebesbeziehung die Rede ist (Cash und Carter waren zu dem Zeitpunkt beide verheiratet, und zwar nicht miteinander), andererseits von Cashs Drogenproblemen. (Ob June Carter selbst welche hatte, ist nach meinem Wissensstand nicht überliefert.) Cash war etwa seit Ende der fünfziger Jahre abhängig von Amphetaminen und Alkohol.

Leave That Junk Alone (von schlagmichtotichweißesnicht – Fünfziger?) ist für mich ein ziemlich typisches Rockabilly-Stück. Die markanten Kiekser erinnern z. B. an Buddy Holly.

Das Comeback: Die American Recordings

Mit der von Rick Rubin produzierten Albumreihe American Recordings gelang Cash ab 1994 ein spektakuläres Comeback, das ihm eine neue Generation von Fans bescherte. Die Alben enthalten zahlreiche Coverversionen, aber auch eigene Songs, darunter das zuvor erwähnte beeindruckende The Man Comes Around, das gespickt ist mit Bibelzitaten und augenscheinlich von der Wiederkehr Christi handelt. Es fällt schwer, für diese späten Produktionen ein Genre zu finden. Alternative Country passt vielleicht noch am besten, aber das passt auf so ziemlich alles.
Sein Cover von Hurt gefällt mir um einiges besser als das Original von Nine Inch Nails. Vorgetragen von einem hörbar kranken alten Mann mit leicht brüchigem, aber immer noch kraftvollen Bassbariton geht dieses Lied wirklich unter die Haut. Es beschreibt die Erfahrungen und Gedanken eines Drogenabhängigen.

Mit dem Video zu diesem Lied, in dem Archivmaterial aus jungen Jahren mit aktuellen Aufnahmen von 2003 kombiniert wurde, setzte Regisseur Mark Romanek dem 71-jährigen Cash noch zu Lebzeiten ein Monument. In sechs Kategorien für den MTV Video Music Award nominiert, zeigt es u. a. das House of Cash in Hendersonville in der Nähe von Nashville mit dem Schriftzug „closed to the public“ und seiner Sammlung verstaubter und teils zerstörter Cash-Devotionalien. June Carter Cash, mit der er 35 Jahre verheiratet war, ist ebenfalls kurz zu sehen. Sie starb kurz nach dem Dreh, Johnny Cash folgte ihr am 12. September 2003.

Foto: Joel Baldwin (LOOK Magazine, 1969), released to public domain. Eingebunden über Wikimedia Commons.

Mehr zu Johnny Cash:
Offizielle Website zu Johnny Cash
Johnny Cash beim Rolling Stone Magazine

~ von Jan Schreiber - 25. Juli 2014.

Eine Antwort to “The Man in Black Comes Around – über Johnny Cash”

  1. […] Tom Astor und das vielleicht schlechteste Musikvideo der Welt beschert. Tom Astor verhält sich zu Johnny Cash ungefähr so wie studiVZ zu Facebook. Hierzulande denken viele zuerst an diese Art Country-Musik, […]

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